Re: The Trouble With Talking

Zu: Kathrin Passig im Merkur, Dezember 2018: The Trouble With TalkingGrundsätzlich halte ich die schriftliche Kommunikation der mündlichen gegenüber für überlegen und würde den langen Text jederzeit, zumindest bei komplexen Themen, dem Gespräch oder Vortrag vorziehen. Ich teile auch die Argumente, die Kathrin Passig dazu im Merkur vorträgt, nämlich dass schriftliche Kommunikation eigentlich weniger missverständlich sei als die mündliche und auch weniger anfällig für Diskriminierung. Zwei einschränkende Anmerkungen aus dem Unternehmensalltag heraus für die Praxis will ich dennoch machen:

Erstens: Das Ergebnis der Abwägung zwischen dem Schriftlichen und dem Mündlichen fußt auf der Annahme, dass die Akteure die schriftliche Form mindestens so gut beherrschen wie die mündliche. Das ist in einem literatur- oder universitätsnahen Umfeld vermutlich zutreffend. In meinem Unternehmensumfeld ist dem nicht so. Ich habe schon Mails gesehen, die als freundliche Nachfragen an den Chef gemeint waren, sich aber wie Putschversuche gelesen haben – und vom Chef auch so interpretiert wurden (mit den entsprechenden negativen Nebenwirkungen für den Absender). Oder Mails, die als Alarmmeldung gedacht waren, deren brisanter Inhalt ausnahmsweise Schriftgröße 32, rote Farbe und Fettdruck gerechtfertigt hätten, niedergeschrieben aber wie eine freundlich und höflich vorgetragene Bitte klangen. In der schriftlichen Kommunikation sind manche in meinem Umfeld einfach sehr, sehr schlecht.

Dagegen vermute ich, dass aufgrund der unvermeidlichen alltäglichen Nutzung eigentlich alle in der mündlichen Kommunikation ein gewisses Grundniveau erreichen, so dass zumindest sehr grobe Patzer nicht regelmäßig vorkommen (Ausnahmen bestätigen die Regel). Ich habe noch nicht erlebt, dass jemand unabsichtlich dem Chef mündlich einen Putsch ankündigt, obwohl viel mehr geredet als geschrieben wird. Wahrscheinlich wird diese Verteilung der Fähigkeiten auch durch Selektion im klassischen Bewerbungssystem begünstigst – es gibt ja ein Bewerbungsgespräch, keinen Bewerbungsaufsatz.

Im Unternehmen spricht also aufgrund der begrenzten schriftlichen Ausdrucksfähigkeit zumindest einiger Akteure einiges dafür, die mündliche Form vorzuziehen. Wie weit das auch in Onlineforen, Internetcommunitys und für Twitter gilt, kann ich nur spekulieren. Ich würde aber vermuten, dass die Schreibenden in Online-Foren von ihren lesenden und schreibenden Fähigkeiten her eher der Unternehmensbelegschaft ähneln als den Angehörigen einer Universität.

Zweitens: Missverständlichkeit ist auch nicht immer etwas Schlechtes: Ich habe Verhandlungen erlebt, in die beide Seiten nur deswegen viel Energie gesteckt haben, weil anfänglich beim Versuch Ziel und Fokus der Verhandlungen zu definieren, nicht absichtlich, aber doch mit einigem Geschick aneinander vorbeigeredet wurde. Es kam trotzdem zum Verhandlungsabschluss, weil sich beide Seiten eben mit der Zeit der anderen Seite angenähert haben. Hätte man dagegen am Anfang direkt und unmissverständlich über die Ziele gesprochen, man hätte die Verhandlungen direkt abgebrochen.

Auch organisationsintern lebt die Unternehmenskultur davon, dass viele tausend arbeitsteilig organisierte Mitarbeiter in der Lage sind, zu bestimmten Fragen einen Konsens zu erreichen und diesen auch dauerhaft zu bewahren. Fast alle teilen diesen Anspruch, einen Kompromiss zu erreichen, er braucht sich nur am Horizont anzudeuten und schon strebt man ihm entgegen. Permanente Debatten mit vielen Beteiligten zu unwichtigen Punkten lähmen die Organisation und sind so gut es geht zu vermeiden. Das geht so weit, dass manchmal sogar Punkte, die offensichtlich falsch sind, trotzdem nicht angezweifelt werden können, weil die Diskussion darüber eher die Organisation lähmen würde, als dass sie produktiv zum Fortschritt beiträgt. Planungsannahmen anzuzweifeln zum Beispiel, nachdem die Planung unternehmensweit beschlossen wurde, bringt niemandem etwas, kann aber weite Teile der Organisation von der Arbeit abhalten – und wirkt daher selbst dann unproduktiv, wenn die Zweifel berechtigt sind.

Quelle: New Yorker. There can be no peace before they renounce their Rabbit God and accept our Duck God Auch hier wirkt die Missverständlichkeit der mündlichen Kommunikation positiv, sie dämpft die Härte von Diskussionen und wirkt dadurch konsensfördernd. Mündliche Meetings bringen meistens eine gewisse Ambiguität mit sich und das ist hier eine gute Sache. Soll doch jeder aus dem Meeting gehen und denken, er habe sich durchgesetzt. Würde man dagegen versuchen, die im Meeting erreichte Position präzise und detailreich aufzuschreiben, so würde direkt um jedes Wort und jedes noch so kleine Detail gefeilscht werden. Selbst wenn mir das Thema nicht wichtig genug erscheint, meine Zeit darauf zu verwenden, dann schicke ich eben einen meiner Mitarbeiter! Und diese Haltung frisst unheimlich viel Energie, die durch eine gewisse Ambiguität im Mündlichen nicht aufgewendet werden muss. Im Meeting könnten wir uns – der Konsensorientierung sei Dank – zügig darauf einigen, dass die einen zwar „Duck God“ sagen, aber sie doch – das Bild ist ja eindeutig! – unseren „Rabbit God“ meinen. Keine weiteren Diskussionen nötig. Problem gar nicht erst entstanden – auf zu den wichtigen Themen. Würden wir präzise und detailreich aufschreiben, auf was wir uns verständigt haben, es würde eine lange Diskussion werden.

Zusammengefasst: Obwohl die schriftliche Kommunikation mir grundsätzlich überlegen erscheint, gibt es doch im praktischen Einsatz im Unternehmensumfeld mindestens zwei Gründe – das Unvermögen der Akteure zur schriftlichen Kommunikation und der Mehrwert von (bewusst kultivierter) Ambiguität und Missverständlichkeit – eher mündlich zu agieren.

Geschrieben im Dezember 2018 | Kategorie: Unternehmenskultur