Meine Texte


»Der Tanz auf dem Vulkan«

Marie Vieux' »Der Tanz auf dem Vulkan« ist in vielerlei Hinsicht ein eindrucksvolles Buch. Literarisch eine Identifikation mit Sklaven und ihrem Leid so zu ermöglichen, eine Identifikation mit ihrer durch und durch beklemmenden Lage – das habe ich in der Form nicht einmal bei Turgenjew gefunden. Auch Wochen, nachdem das Buch zu Ende gelesen ist, verfolgen mich Gedanken. Einen will ich herausgreifen.

Wer Sklaven besitzt, braucht eine Ideologie, die es ihm ermöglicht, Sklaven als etwas anderes als sich selbst, als etwas minderwertiges zu beschreiben. Sonst lässt es sich nicht aushalten, jeden Tag zu sehen, wie Sklaven in der Straße geprügelt werden. Rassismus mit einer Abgrenzung von überlegender weißer und unterlegener farbiger Rasse oder überlegenen rechtgläubigen Muslimen und unterlegenen Ungläubigen, ist eine schlichte Notwendigkeit, um eine Gesellschaftsordnung, die auf Sklaverei basiert, zu stabilisieren, auch wenn Vieux mit Überzeugungskraft erzählt, wie auch freigelassene Farbige sich in die ökonomische Ordnung als nicht minder grausame Sklavenbesitzer einordnen wollen und einordnen, wenn auch erst kurz vor dem Zusammenbruch dieser Ordnung und womöglich auch als bedeutsamer Schritt in diese Richtung. Doch was alle Sklavenhalter bei Vieux gemeinsam haben: Sie sehen in ihren Sklaven mehr Tier als Mensch. Bis deutlich über die Grenze der Dummheit hinaus sprechen die Sklavenhalter ihren Sklaven die Fähigkeit zum strategischen Denken ab. Einmal nach einem Fluchtversuch ordentlich geprügelt und schon könne man die eigene Tochter gefahrlos mit den Sklaven allein auf Reisen schicken – was natürlich so endet, wie wir es aus einigem Abstand erwarten: Mit erneuter Flucht, aber erst nach Rache an der Tochter.

Ausnahmslos jeder Mensch ist zum strategischen Denken in der Lage. Doch gerade im modernen Opferdiskurs wird das gerne vergessen, der Mensch wird wieder – das Muster hat anscheinend aus schrecklicheren Zeit überlebt – als minderwertiges Geschöpf gesehen, das nur Reaktion-Gegenreaktion kennt, also ohne die Fähigkeit ist, abzuwarten, den Moment zu nutzen, die Dinge miteinander auszuspielen und an einem einmal gefassten Willen auch bei Körperstrafe und Todesdrohung festzuhalten. Auch dem Gegner wird diese Fähigkeit, die einen erst zum gleichwertigen Menschen macht, gerne einmal abgesprochen. Das ist nicht bloß dumm – das ist, wie man bei Vieux lernen kann, auch gefährlich und selbstgefährend dumm.

Geschrieben im Juli 2024 | Kategorie: Bücher

Dazwischensabbeln

Eigentlich sind sich die Militärs schon einig: »Roter Oktober« muss versenkt werden. Zu groß sei die Gefahr, die in Zeiten des kalten Krieges von diesem neuartigen U-Boot der Sowjets ausgeht, und zu eindeutig steht fest, dass sein Kapitän Marko Ramius (Sean Connery) ein Verrückter sein muss. Da haut Dr. Jack Ryan (Alec Baldwin), als einfacher Analyst Gast im Meeting der Generäle, im Überschwang fluchend auf den Tisch: Überlaufen! Ramius wolle zu den Amerikanern überlaufen. Das wäre ein Schlag für die Sowjets. Direkt wäre die neue Technologie wieder unschädlich gemacht. Und schon wenige Sätze später befindet Ryan sich in einem Militärhubschrauber auf dem Weg mit der »Roter Oktober« Kontakt aufzunehmen. Natürlich, wir sind im amerikanischen Kino: nach dramatischem Auf und Ab, einem Bluff und einem erneuten Verrat gelingt es ihm, das U-Boot und seinen Kapitän nach Amerika zu lotsen. Angefangen hat das alles mit einem rebellischen Dazwischensabbeln.

Es kann aber auch anders laufen: Für Don Vito Corleone (Marlon Brando) in »Der Pate« steht fest, dass seine Familie nicht in den Drogenhandel einsteigen wird. In dieser Klarheit teilt er das der Tattaglia-Familie mit. Doch wieder wird dazwischengesabbelt: Sein Sohn Sonny (James Caan) widerspricht offen noch während des Meetings. Deutlich wird: Die Corleone-Familie steht in diesem Thema nicht geschlossen. Das löst die Kette der Ereignisse aus: Don Corleone kostet ein Mordanschlag fast das Leben, denn sofort schlägt die Tattaglia-Familie los, im weiteren Gemetzel sterben viele, darunter der Problemverursacher Sonny. Und auch das hat angefangen mit einem rebellischen Dazwischensabbeln.

Fernsehen und Film ermöglichen Kindern den heimlichen Blick in die sonst verschlossene Welt der Erwachsene und Meetings fallen womöglich in deren noch für Studenten unverständlichsten Teil: In Meetings in ihrer merkwürdigen, ritualisierten Form soll über das Schicksal der Welt entschieden werden? Da muss man doch geradezu Rebell sein und dazwischensabbeln. »Roter Oktober« und »Der Pate« verraten einem: Das kann die Sache zum guten Wenden – aber auch zum schlechten. Auf jeden Fall werden die Einsätze erheblich erhöht.

Geschrieben im Februar 2024 | Kategorie: Film & Theater

Toga-und-Kurzschwert-Romanze

Natürlich stimmt es, dass der Film eine Toga-und-Kurzschwert-Romanze ist. Doch diese Erkenntnis ändert nichts daran: »Gladiator« ist ein Meisterwerk. Nicht weil er eine ungewöhnliche Geschichte erzählt. Nein, der Film ist es gerade, weil hier ein klassisches Erzählmuster von Fall, Wiederaufstieg und Erlösung erzählt wird – aber auf die grandioseste Art und Weise.

Der Anfang ist schnell erzählt: Ein siegreicher General (Russel Crowe), dem alten Kaiser eng verbunden, wird Opfer einer Intrige des Thronfolgers Commodus (Joaquin Phoenix) beim Ableben dessen Vorgängers. Die Familie des Generals wird ermordet, er selbst wird zum gebrochenen Sklaven. Es ist der tiefstmögliche Fall. Wir sind hier im Kino, nicht im europäischen Film. Fall und Wiederaufstieg werden nicht durch Kontaktabbruch und -wiederaufnahme zur Mutter markiert.

Natürlich verläuft der Wiederaufstieg in »Gladiator« genauso extrem wie der Fall. Das dazugehörige Bild: Russell Crowe reitend auf einem weißen Pferd, mit seinem Kurzschwert seine Soldaten zu einem großen Sieg und Ehre kommandierend. Und wie genial ist komponiert, dass sich dieses Bild in wenigen Minuten ausrollen lässt: Als Sklave wird Crowe zum Gladiator, erst lustlos kämpfend, als aber seine Mitgladiatoren und er zu Commodus' Unterhaltung im Kolloseum (wo auch sonst?) dahingemetzelt werden sollen, ist der General wieder da. Eben noch lauter Einzelkämpfer, angesichts des Todes kämpfen die Gladiatoren jetzt vereint – unter seinem Kommando. Wo kommt das Pferd her? Streitwagen sind es, die die Gladiatoren abschlachten sollen – mit ihnen kommen Pferde ins Bild. Durch Geschlossenheit und überlegene Taktik zerstören entgegen der Logik der Waffenaufstellung Crowes Gladiatoren die Streitwagen und gewinnen das Gefecht, begleitet von Hans Zimmers Musik, damals als dieser noch so komponiert hat, dass die Bewegtbilder nicht zur Bebilderung des alles überstrahlenden Tons degradiert wurden und Schauspielern das Erstarren als Statue als einzig mögliche Reaktion erspart blieb. In »Gladiator« passt alles: Crowe sitzt endlich auf einem der Pferde, natürlich ein weißes, und die Massen jubeln ekstatisch.

Hier könnte die Szene vorbei sein und sie wäre schon so großartig. Regisseur Ridley Scott setzt aber noch einen drauf: Bisher unwissend, wer da unten kämpft, wird Commodus neugierig. Er will den siegreichen Anführer sprechen. Prätorianer umstellen die Gladiatoren, Joaquin Phoenix steigt von der Tribüne herab in die Arena. Protagonist und Antagonist stehen sich Auge in Auge gegenüber. Und wie großartig Phoenix die Szene spielt. Eben noch kindisch unterhalten vom überraschenden Sieg (»I rather enjoy surprises«), erkennt er nach einigem hin und her, wer vor ihm steht. Sein Unterkiefer bebt, er will sein Werk zu Ende bringen und töten, was er getötet zu haben glaubte. Die Prätorianer stehen bereit, sie würden es auf seinen Befehl hin vollenden. Und doch kann er nicht. Nach innerem Ringen bricht er ab. Der Jubel der Massen schützt die Gladiatoren. Welch' Niederlage für den vermeintlich allmächtigen Kaiser. Doch genauso verfährt der Film mit Crowe: Obwohl mit überbordendem Rachedurst (»I will have my vengeance, in this life or the next!«) ebenso ausgestattet wie mit einem Mordwerkzeug – einer in seiner Hand verborgenen Pfeilspitze –, kann auch er sein Werk nicht vollenden: Der ihm lieb gewonnene Neffe Commodus’ ist mit hinabgestiegen und steht vor seinem Onkel. Beide jeweils mit dem Mittel zum Mord auszustatten und sie zugleich an dessen Verwendung zu hindern: Grandios.

Natürlich kommt Crowe später doch noch zu seiner erlösenden Rache und Commodus geht unter – wir wissen, wie amerikanische Filme enden. Doch auch das geschieht wie der ganze Film im Stil so amerikanisch, wie es nur geht, seinen Kunstcharakter verbergend, und zugleich genial komponiert. Viel mehr Kino geht nicht.

Geschrieben im Februar 2024 | Kategorie: Film & Theater

Den eigenen Palast stürmen

Markus Antonius' Rede in Shakespeares »Julius Caesar« ist keine ironische. Ironie würde bedeuten, dass sich Redner und Zuhörer gemeinsam des Umstandes bewusst sind, dass das Gesagte nicht wahr ist. Antonius aber will, dass das Publikum, nachdem Brutus es gerade von der Rechtmäßigkeit des Mordes an Cäsar überzeugt hat, ihm erst einmal abnimmt, dass er ebenso denkt wie Cäsars Mörder. »Caesar was my friend. But Brutus is an honourable man!« Antonius hat versprochen, nicht Partei gegen die Mörder Cäsars zu ergreifen – und er tut es nicht. Er argumentiert deren Position einfach nur so schwach, dass sie zusammenbricht. Das wiederum ist kein Unfall.

»Only Nixon could go to China.« Nur Sozialdemokraten können den Sozialstaat zurückbauen. Ist Bildung die Befähigung, das eigene Weltbild in Frage zu stellen, dann ist ihre Entsprechung im Handeln: die Fähigkeit den eigenen Palast zu stürmen, also das temporäre oder dauerhafte Ignorieren dessen, was einem die eigene Position überhaupt erst verschafft hat, sei es aus Überzeugung oder sei es taktisch. So bleibt man an der Macht.

Geschrieben im Dezember 2023 | Kategorie: Film & Theater

Demokratie in Gefahr

Künstliche Intelligenz sei eine Gefahr für unser Demokratie. Das ist schnell gesagt in Zeiten, in denen es anders als in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts weder im Parlament noch außerhalb davon eine relevante Opposition gibt, die sich in offener Gegnerschaft zur Demokratie befindet. Es klingt wunderschön dramatisch, das Argument dahinter ist allerdings recht merkwürdig: Mit künstlicher Intelligenz würden in Massen wahrheitswidrige Texte, Bilder und Videos erzeugt werden, die es unmöglich machten, zwischen menschen- und maschinengeschaffen, zwischen wahr und Fake zu unterscheiden. Man könne folglich in der Zukunft Informationen nicht mehr trauen. Informationen aus dem Internet.

Wirklich? Man weiß nicht, ob man denen, die so argumentieren, die Naivität neiden oder ob man verzweifeln soll. Jeder weiß doch, dass man Informationen aus dem Internet nicht trauen kann, heute schon und seit Anbeginn der Zeiten. Wer daran zweifelt, dem sei die Nutzung von Twitter oder von Facebook empfohlen. Durch künstliche Intelligenz ändert sich daran schlicht und einfach gar nichts. Man kann Informationen aus dem Internet weiterhin nicht trauen.

Geschrieben im November 2023 | Kategorie: Technologie