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Entscheidungsheuristiken

Am liebsten würde man sich natürlich immer für das Richtige entscheiden. Doch in einer kontingenten Welt ist das leider nicht so einfach. Selbst was sich zuerst als richtig anfühlt, kann sich später als falsch herausstellen. Ob die französische Revolution richtig war, werde sich erst noch zeigen müssen. Es sei zu früh dies zu beurteilen, antwortete der chinesische Ministerpräsident Tschou En-lai 1972 – fast zweihundert Jahre nach dem nämlichen Ereignis. Das Richtige ist schwer auszumachen, doch viele Varianten des Falschen sind dafür umso leichter zu erkennen. Deswegen bleibt es trotzdem dabei: Die erste Heuristik ist die der Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Es gibt für jedes Problem eine Lösung ohne Schummeln – im Alltäglichen meistens sogar mehrere. Den Lösungsraum so schon einmal eingeschränkt, wird es allerdings komplizierter.

Die zweite Heuristik ist die des Nützlichen: Unter allem, das richtig scheint, gibt es solche Lösungen, die zusätzlich noch nützlich sind, die also abseits der konkreten Frage in anderen Zusammenhängen Vorteile generieren, wo andere Wege Nachteile verursachen. Natürlich sind erstere vorzuziehen. Doch auch im Nützlichen waltet wieder Kontingenz. Der Lösungsraum wird also nur weiter verkleinert, die Entscheidung bleibt weiterhin offen.

Bleibt die dritte Heuristik: Die des Schönen. Womöglich dreht sich die Sonne auch um die Erde, aber die mathematischen Gleichungen für ein Drehen der Erde um die Sonne sind einfach die eleganteren. Und ist man ehrlich zu sich selbst, so ist die Entscheidung über das Schöne meistens die einfachste und klarste Heuristik.

Geschrieben im September 2023 | Kategorie: Allgemeine Betrachtungen

Die Unmittelbarkeit von ChatGPT

Zwei sensationelle Ereignisse gab es in der jüngsten Geschichte der künstlichen Intelligenz: Das erste war, als Deep Blue Garri Kasparow besiegte. Dass eine KI irgendwann großartig Schach spielen würde, war allgemein erwartet worden – allerdings erst für eine entfernte Zukunft. Und doch war es plötzlich so weit: Der Computer besiegte den womöglich besten Schachspieler aller Zeiten. Das kam ziemlich überraschend und für viele war es ein Schock.

Das zweite Ereignis war, als AlphaGo, wieder in einer Partie gegen einen Weltmeister, diesmal im asiatischen Spiel Go, seinen Stein in der Mitte des Spielbretts platzierte. Eine brüllende Stille brach unter den Kommentatoren aus, so ungewöhnlich war dieser Zug, und seine Genialität wurde erst nach vielen weiteren Zügen für alle offenkundig. Dass KI Schach spielen kann, war da schon verdaut, immerhin waren zwanzig Jahre vergangen. Go aber war aus Sicht seiner Fans so viel komplexer, dass es noch einmal Jahrzehnte dauern würde, bis Computer auch hier mithalten könnten, wenn dies überhaupt jemals möglich wäre. Und dann war auch das wieder einfach geschehen.Wieder war es ein Schock. Das letzte dem Menschen vorbehaltene Refugium war gefallen.

Als ChatGPT anfing Texte zu verfassen, die sich menschlich anfühlten, war das wieder ein Schock für viele. Allerdings einer von einer anderen Art. Dass Computer Texte schreiben würden, war als ChatGPT veröffentlicht wurde keine entfernte Vorstellung. Die Rechenkapazität war da, die Theorie wohlbeschrieben, erste unzureichende Versuche hatten bereits viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diesmal war alles als unmittelbar bevorstehend erwartet worden. Und trotzdem wirkten die Schockwellen verheerender. Denn wo DeepBlue und AlphaGo noch primär Ereignisse innerhalb der Nerdcommunity (und unter den Fans von Schach respektive Go) waren, waren die Zeitungen diesmal voll von Berichten und Kommentaren zu Large Language Models, den in ihnen liegenden Chancen und vor allem ihren Risiken. Denn eines war diesmal anders: Anders als Deep Blue und AlphaGo, die man nur aus der Berichterstattung darüber als weit entfernte Ereignisse greifen konnte, ohne eigenen Kontakt, war ChatGPT verfügbar. Jeder konnte die Software nutzen. Es war kein Bericht von einem Wunder, das sich weit entfernt in Seoul ereignete. Die Magie entfaltete sich unmittelbar vor den eigenen Augen. Jeder, der wollte, war (und ist) mittendrin.

Womöglich ist das auch das Gewaltigste an ChatGPT und dessen Rezeption der Auslöser dafür, dass der Bruch zum bisherigen sich so viel schwerwiegender anfühlt als Deep Blue und AlphaGo.

Geschrieben im September 2023 | Kategorie: Technologie

Homeoffice (III/III) – das Schleifen eines Besitzstandes

Es ist um den Menschen so bestellt, dass er sich schwer damit tut, etwas wieder aufzugeben, das er einmal in Besitz genommen hat. Verlustaversion nennen das die Ökonomen und diese trifft nicht nur auf Vermögenswerte zu, sondern auch auf immaterielle Besitzstände.

Nun ist die Argumentation für das Arbeiten aus dem Homeoffice aus Produktivitätsaspekten heraus recht angreifbar [1]. Der private Vorteil, der sich aus der täglichen Entscheidungsfreiheit ergibt, entweder ins Büro zu fahren oder von zuhause zu arbeiten, ist unbestreitbar gewaltig: Es wird nicht nur die Zeit fürs Pendeln eingespart. Vor allem lassen sich die beruflichen Pflichten ideal mit den privaten kombinieren. Während der Corona-Zeit haben viele – meist unfreiwillig – herausgefunden, wie weit sich das sogar auf die parallele Nachwuchsbetreuung erstrecken kann. Die Möglichkeit von privaten Erledigungen während der Kernarbeitszeiten (und im Gutfall die selbstgewählte Verlagerung der Arbeitszeit in die Abendstunden) hat einfach viel für sich.

Über die letzten Jahre des erst erzwungenen und des dann vielerorts fortgesetzten Homeoffice sind diese privaten Vorteile für viele zum Besitzstand geworden. Deswegen ist die Diskussion so schwierig. Über ein Produktivitätsoptimum kann man sachlich streiten [2]. Das Wegnehmen von Besitzständen ist historisch ein nicht unüblicher Auslöser von Aufständen.

Geschrieben im August 2023 | Kategorie: Unternehmenskultur

Homeoffice (II/III) – der Beginn der langen Suche nach dem Optimum

Ich glaube daran, dass das Homeoffice unter idealen Voraussetzungen für bestimmte Aufgaben erhebliche Vorteile gegenüber der Arbeit im Büro hat. Wer zuhause ein optimales Setup bezüglich Räumlichkeiten und IT-Ausstattung vorfindet, der wird bei denkintensiven, allein zu lösenden Aufgaben Bedingungen vorfinden, die im Büro nicht zu übertreffen sind: Unterbrechungsfreies Arbeiten bei höchster Konzentration. Wahrscheinlich umfasst jede akademische Tätigkeit Aufgaben, für deren Erledigung dies enorm zuträglich ist. In drei anderen Kategorien halte ich das Arbeiten im Büro dem Arbeiten im Homeoffice aber für überlegen: Koordinieren, Kontroverses und Innovatives.

Akademische Berufe in Großorganisationen sind selten solche, bei denen man allein und für sich eine Aufgabe löst. Das meiste passiert im Team. Jedes Team agiert zudem in enger Abhängigkeit von seiner Umwelt. Beides erfordert ein erhebliches Maß an Koordination. Diese Koordination funktioniert, wenn alle im Büro sind, mit deutlich weniger Zeitaufwand als digital. Der schnelle Zuruf beim Vorbeilaufen ist dem Teams-Call dafür erheblich überlegen. Zumal die Zusammenarbeit im Büro generell informeller ist und durch die Einschränkungen des Informellen im Digitalen eine eigentlich managementideologisch unerwünschte Re-hierarchisierung der Kommunikation stattfindet. Der einfache, breite und informelle Austausch im Büro ermöglicht es jedem, sich selbst Erwartungen (und manchmal auch Aufträge) zu erarbeiten, wo digital die Führungskraft wieder deutlich mehr in ihrer Konzentrationsfunktion, als Auftraggeber und Aggregator der unterschiedlichen (externen) Erwartungen, für ihre Mitarbeiter gefordert wird. Ein Teil des beschriebenen Nachteils bei der Koordination im Digitalen lässt sich kompensieren, indem man mehr Zeit in diese steckt. Aber eben nur ein Teil – und es bleibt dann immer noch weniger Zeit für produktive Aufgaben.

Manchmal funktioniert Kontroverses auch per Teams-Call. Wenn sich Teams gut kennen und jeder gutwillig ist, geht es womöglich gut. Meiner Erfahrung nach allerdings meistens nicht. Die nonverbale Kommunikation in Präsenz wird nicht dadurch ersetzt, dass alle die Kamera eingeschaltet haben, gerade in mittelgroßen Gruppen. Zumal die Gesprächskultur digital – wer erstmal das Wort hat, redet auch bis er alle seine Punkte gemacht hat – auch nicht dazu beiträgt, Debattenpunkte schnell aufzulösen. Kontroverses führt digital zur Konfrontation, wo in Präsenz ein Zwischenruf oder ein Witz den Konflikt womöglich recht banal aufgelöst hätte. Genauso schlimm: Wenn aufgrund solcher negativer Erfahrungen im Digitalen das Kontroverse schlicht vermieden wird.

Miro-Boards und ähnliches sind eine tolle Sache. Was Innovatives angeht, bleiben digitale Kreativ-Sessions aber mangelhaftes Substitut. Innovation lebt von der zufälligen Begegnung, dem spontanen Gedanken, dem Zusammenspielen unterschiedlicher Ideen. All das gibt es sehr viel seltener im Homeoffice.

Kein akademischer Job wird sich nur in diesen drei Kategorien bewegen. Genau wie keiner nur aus konzentriertem Arbeiten besteht. Jeder wird von beidem zumindest einen Teil mitbringen. Es gibt folglich ein Optimum zwischen dem permanenten Arbeiten im Büro und dem permanenten Homeoffice. Ein von den Umständen abhängendes Optimum? Willkommen in einer Debatte, die uns das nächste Jahrzehnt beschäftigen wird.

Geschrieben im August 2023 | Kategorie: Unternehmenskultur

Homeoffice (I/III) – das jähe Ende der Euphorie

2020 waren wir noch begeistert: Nach Jahren, in denen man jeden Tag im Büro verbracht hat, stellt sich heraus: Arbeiten funktioniert auch aus dem Homeoffice. Ohne tägliches Pendeln, mit flexibleren Arbeitszeiten und durch die erstmals verbreitete Nutzung von Microsoft Teams oder ähnlicher Software, deren Funktionen erst mit der Zeit erweitert wurden und die zuvor nur von wenigen benutzt wurden, gefühlt sogar ohne einen Verlust an Produktivität. Corona hat uns alle dazu gezwungen, aber gut angefühlt hat es sich trotzdem. Der private Vorteil verband sich hervorragend mit dem alles entscheidenden Produktivitätsargument.

Diese Euphorie ist mittlerweile vorbei. Es hat einen Moment gebraucht, aber mittlerweile ist das Bild recht klar: Im Homeoffice steigt die Produktivität nicht, im Gegenteil, sie ist selbst in repetitiven, koordinationsarmen Aufgaben spürbar verringert [1]. Geht es um Aufgaben, die Koordination mit anderen erfordern, bleibt wegen des gesteigerten Koordinationsaufwands im Homeoffice nicht genug Zeit übrig, um diesen Produktivitätsverlust wieder aufzufangen – selbst wenn im Homeoffice mehr Arbeitsstunden abgeleistet werden [2]. Und dann zieht die Möglichkeit, einen Job aus dem Homeoffice auszuüben, auch noch weniger leistungsstarke Bewerber an als ein klassischer Bürojob [3]. Aktuelle Studien lassen das Homeoffice nicht in einem guten Licht erscheinen.

Geschrieben im August 2023 | Kategorie: Unternehmenskultur