Sie sind (nicht) wie wir

Die Reichsproklamation in Versailles von Anton von WernerIm deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 war die Mobilisierungsgeschwindigkeit von Deutschen und Franzosen zu Kriegsbeginn sehr unterschiedlich. Dem preußischen Generalstab gelang es mit einer ausgefeilten Eisenbahnlogistik und dem gemeinsamen Transfer von Truppen und Material recht zügig schlagkräftige Verbände an die baldige Front zu verlegen. Parallel herrschte auf der französischen Seite noch Chaos. Einheiten konnten wegen mangelhafter Logistik nur langsam von ihren Heimatstandorten verlegt werden und von denen, die die Grenze erreichten, warteten viele noch lange auf Waffen und Munition.

Dieser Unterschied in der Mobilisierungsgeschwindigkeit hätte maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Krieges haben können. Hatte er aber nicht. Aus einem einfachen Grund: Dafür hätten die Deutschen ihn ahnen müssen. Das haben sie aber nicht. Sie gingen im Gegenteil davon aus, dass die Franzosen genauso schnell wären wie sie selbst und warteten daher ab. Die Franzosen wiederum gingen davon aus, die Deutschen seien genauso langsam wie sie selbst, es gäbe also keinen Grund zur Sorge. Der erste Vorstoß des Krieges – die militärisch unsinnige und für die unterlegene Seite riskante Besetzung von Saarbrücken – ging von den Franzosen aus. Preußen gewann den Krieg schlussendlich deutlich – die Mobilisierung war nicht das einzige, bei dem es den Franzosen überlegen war. Hätten die Deutschen allerdings ihre schnellere Mobilisierung ausspielen können, wäre der Sieg womöglich noch schneller und verlustärmer zu erreichen gewesen.

Dem Fehler dahinter, der 1870 Deutsche und Franzosen gleichermaßen traf, begegnen wir auch heute vielfach: Im Zweifelsfall geht man davon aus, dass die andere Seite, mit der man im Konflikt steht, genauso ist, wie man selbst, mit den gleichen Fähigkeiten und dem gleichen Wissen ausgestattet. So abstrakt aufgeschrieben, ist offensichtlich, dass dies ziemlich unsinnig ist. Dass zwei Menschen oder zwei Unternehmen genau gleiche Fähigkeiten und Wissen haben, das ist unrealistisch. Trotzdem verfällt man leicht dieser Annahme: in eigener Selbstüberschätzung (wie die Franzosen) oder in Überschätzung des anderen (wie die Deutschen).

Deswegen lohnt es sich, sich hin und wieder vor ein weißes Blatt Papier zu setzen und aufzuschreiben, was man wirklich sicher über sein Gegenüber weiß – ohne zuvorderst an sich selbst zu denken.

Geschrieben im April 2023 | Kategorie: Unternehmenskultur

Rudimente des Studiums

Der Mensch ist geworden, was er ist. Das unterscheidet ihn vom Tier. Wir können nichts tun, ohne dass es uns nicht auch verändert. Václav Klaus hatte einmal in einer Rede vor Absolventen herausgestellt, dass das Wesentliche, was von einem Studium hängen bleibe, nicht Fachwissen, sondern bestimmte Formen, bestimmte Prinzipien des Denkens seien. Für die Ökonomen, die vor ihm saßen und derer er selbst einer ist, sei dies besonders das „Denken im Grenzwert“, also die Fähigkeit zu verstehen, dass die gleiche Maßnahme, die unter den einen Bedingungen zu einer Verbesserung der Situation führt – zum Beispiel eine gesteigerte Wohlfahrt –, unter anderen Bedingungen ebendieser zum Schaden gereicht. Wirkrichtung und Effektstärke, der Grenzwert, seien eben von anderen Variablen abhängig. Was gestern noch richtig war, kann heute falsch sein.

Jetzt bin ich ja auch Ökonom und das „Denken im Grenzwert“ ist mir nicht völlig fremd, zurückschauend auf mittlerweile mehr als zehn Jahre seit meinem ersten Universitätsabschluss gibt es aber zwei andere Prinzipien, relativ offensichtlich inspiriert aus der Spieltheorie, die mein Denken vermutlich noch deutlicher geprägt haben: Zum einen das Mitdenken der Reaktionen und zum anderen das Denken vom Ende her.

Mit dem Mitdenken der Reaktionen meine ich folgendes: In der Spieltheorie ist das zentrale Prinzip, nicht nur seine eigenen Aktionen („Strategien“) zu betrachten, sondern auch zu berücksichtigen, welche Aktionen die anderen Akteure wählen, nachdem sie gesehen haben, welche Aktion man selbst auszuführen gedenkt. Überraschend oft begegne ich Plänen, die zwar schöne, konsistente Geschichten des eigenen Vorgehens beschreiben, das Optimieren der Gegenseite in Reaktion auf diesen Plan aber vollständig ignorieren und folglich beim ersten Feindkontakt kollabieren. Dagegen anzuarbeiten ist nicht trivial – niemand mag es, wenn eine schöne Geschichte zerstört wird –, aber recht oft sieht man gerade studierte Ökonomen diesen Kampf fechten.

Das Denken vom Ende her ist ein weiteres Prinzip: Eine der Lösungsstrategien für die Spiele der Spieltheorie ist die Rückwärtsinduktion, bei der man Spiele zu lösen versucht, indem man mit der Analyse des letzten möglichen Spielzugs, der letzten Runde, beginnt und sich dann Runde um Runde nach vorne hangelt, bis der Anfang des Spiels, die erste Runde, erreicht wird. Gerade bei komplexen Interaktionen, meine ich, ist der nächste und übernächste Schritt meist recht kontingent, der letzte Schritt (die Unterschrift der anderen Seite unter einen Vertrag, die Zustimmung eines Gremiums zu einem Vorschlag, die Beförderung auf eine ersehnte Position) oft aber recht einfach zu erkennen. Von dort aus zu aktuellen Entscheidung zurückgehangelt, gibt manchmal klar die Richtung auch für den nächsten und übernächsten Schritt vor. Unter studierten Ökonomen ist ein solches Vorgehen vermutlich recht schnell konsensfähig, in anderen Gruppen dagegen ist die Anschlussfähigkeit meinem Eindruck nach begrenzt.

Methoden- und Faktenwissen mögen mit der Zeit verblassen, aber ein Studium gibt dem Denken eine Richtung, die vielleicht nur in Rudimenten konkret greifbar, die einen aber gleichwohl nie wieder loslässt.

Geschrieben im April 2023 | Kategorie: Allgemeine Betrachtungen

Star Trek und die Welt der Erwachsenen

Das Fernsehen ermöglicht Kindern einen heimlichen Blick in die ihnen ansonsten verschlossene Welt der Erwachsenen, auf die Verhaltensweisen, Probleme und Umgangsformen, die dort gepflegt werden. Insbesondere aber auch in ansonsten ferne soziale Milieus. Das ermöglicht das Lernen, Verstehen und Imitieren. Fernsehen kann einen Beitrag zum sozialen Aufstieg leisten – in einem Ausmaß, wie es Literatur nicht vermag.

Die moderne Serie hat sich auf einen speziellen Zug einer solchen Milieuaufklärung eingeschossen: Der Zerstörung der Mythen von Überlegenheit. Eine typische Serienkonstellation ist die einer Personengruppe, innerhalb derer jeder einzelne durch unverarbeitete Traumata oder schwerwiegende Charaktermängel vermeintlich interessant gemacht wird, deren Konfrontation einen Großteil der Geschichte trägt. Glaubte man naiverweise an die Dominanz edler Gesinnung unter beispielsweise Ärzten, Polizisten oder Anwälten – dieser Glaube wird in diesen Milieus spielenden Serien entschlossen bekämpft. Nicht einmal unter denen mit Superkräfte ist es besser. Die Eliten haben ihren Elitenstatus durch die Bank moralisch nicht verdient.

Eine Serie meiner Jugend war da diametral anders. Bei Star Trek wurde ein anderes Bild gezeichnet, auf durchaus nachvollziehbare Weise: Die Menschheit hat in den 300 Jahren von heute bis zum Serienzeitalter nicht nur materiellen und technologischen, sondern auch sozialen und ethischen Fortschritt erfahren. Auf den seriengegenständlichen Erkundungs- und Forschungsraumschiffen arbeitet zudem die besten dieser bereits insgesamt verbesserten Menschheit. Jeder ist kompetent in der ihm zugeteilten Aufgabe, jeder Sternenflottenoffizier ist im höchsten Maße integer und weder von Charaktermängeln noch von unverarbeiteten Traumata geplagt. Es ist klar zu erkennen, welche Charaktere in ihrer Entwicklung fertig sind, also annähernd vollkommen, und welche sich noch mitten in ihrer Entwicklung befinden, deren Ziel einer Selbstvervollkommnung aber offensichtlich ist und nicht angezweifelt wird. Die Elite hat es verdient Elite zu sein.

Man mag – und das Argument ist nicht von der Hand zu weisen – die Geschichten, die sich daraus ergeben, weniger spannend finden als die, die dunklere Charaktere produzieren. Aber als Blick in die Welt der Erwachsenen bildet es einen Kontrast, der doch einiges an Orientierung gibt.

Geschrieben im März 2023 | Kategorie: Allgemeine Betrachtungen

Menschenbilder im Management

Camus‘ „Mythos von Sisyphos“Aus Camus‘ „Mythos von Sisyphos“ habe ich besonders eine Kontrollfrage mitgenommen, um sie gegen theoretisch-abstrakte Weltdeutungen und die daraus abgeleiteten Strategieempfehlungen zu werfen: Und wenn es wirklich so wäre, was macht das dann aus dem Menschen? Das sprach mit dem Informatiker in mir, der weiß, dass man ab einer gewissen Komplexität Software nicht mehr Zeile für Zeile verstehen kann, sondern stattdessen zum Testen und Bewerten des Outputs übergeht.

Wann immer ich in Managementseminaren sitze oder Managementliteratur lese, werfe ich diese Frage deren Inhalt entgegen. Mit derzeit leider recht unbefriedigendem Ergebnis: Das Menschenbild, das hinter der gegenwärtigen Managementideologie steckt, scheint recht durchgängig – trotz unterschiedlicher Themen und Ansätze – eines zu sein, das den Menschen als ausschließlich gut (und gutmütig) begreift. Ihm stünden noch Hindernisse entgegen, dies auch auszuleben – fehlende Akzeptanz von Emotionen oder mangelhafte Reflektion über Menschlichkeit oder schlechte Organisation –, aber überwinde man diese Hindernisse, dann würde das gute und richtige immer gewinnen (und die Unternehmen dann natürlich auch noch erfolgreicher sein).

Es ist ein durch und durch naives Menschenbild, das konfrontiert mit Büchners Frage, was es ist, das in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet, nur ahnungslos mit den Schultern zucken kann. Interessant ist das auch deswegen, weil das Bild des klassischen Managers das eines rationalen Entscheiders ist, der um ein realistisches Menschenbild schon als Voraussetzung von Rationalität nicht herum kommt. Dazu steht die aktuelle Managementliteratur in fundamentaler Opposition.

Geschrieben im Dezember 2022 | Kategorie: Unternehmenskultur

Programmierer und Übersetzer. Stackoverflow und DeepL

Es ist ein Thema der regelmäßigen Klage in den Feuilletons: Der Lohn, den Übersetzer je übersetzter Normseite erhalten, sei seit Jahren nicht gestiegen. Daraus ergebe sich, so wird geschlussfolgert, ein sinkender Reallohn für diese Berufsgruppe. Ich bin mir nicht sicher, ob die Schlussfolgerung stimmt. Denn, was sich die letzten Jahre ebenfalls verändert hat, ist die Produktivität der Übersetzer. Dank digitaler Hilfsmittel wie DeepL ist diese erheblich höher als noch vor einigen Jahren. DeepL hat eine gewaltige Menge von Übersetzungen eingesammelt und findet so – grob gesprochen – zu Sätzen, die jetzt neu übersetzt werden sollen, ältere Übersetzungen oder setzt sogar unterschiedliche ältere Übersetzungen nach einem statistischen Muster in einen Vorschlag zusammen, der häufig eine ziemlich passende Übersetzung ist. Das ganze liefert die Software leicht zu bearbeiten und fertig zum abschließenden Copy & Paste in das Zieldokument. Diese Produktivitätssteigerung führt dazu, dass selbst bei gleichbleibenden Lohnstückkosten – dem festen Lohn je Normseite – bei aber gleichzeitiger Mengensteigerung sich doch ein steigender Lohn für Übersetzer ergibt. Gerade bei durchschnittlichen Übersetzern mit durchschnittlichen Texten wird die Produktivitätssteigerung vermutlich so groß sein, dass auch die Reallöhne gestiegen sind.

Einen ähnlichen Effekt wie DeepL bei Übersetzern hat Stackoverflow für Programmierer: Als ich damals mit dem Programmieren angefangen habe, haben wir auch schon reichlich Google bemüht. Allein: Google lieferte vielleicht hin und wieder mal eine Idee, aber eigentlich nie fertige Lösungsskizzen oder gar per Copy & Paste verwendbaren fertigen Code. Wenn ich heute programmiere – das Hobby verlässt einen ja nicht und eine bessere Form sich mit der eigenen Fehlbarkeit auseinanderzusetzen, als den gerade frisch geschriebenen Code zu debuggen, habe ich bisher nicht gefunden –, bringt mich Google sofort zu Stackoverflow. Dort hatte nicht nur jemand genau das gleiche Problem, es findet sich auch genau der Code, mit dem andere dieses Problem gelöst haben. Fertig formatiert für den Einsatz via Copy & Paste. Dass die Gehälter von Programmierern in den letzten Jahren überdurchschnittlich angezogen sind, hat vermutlich – neben der ungebremsten Nachfrage – etwas damit zu tun, dass Stackoverflow die Produktivität gerade des durchschnittlichen Programmierers erheblich gesteigert hat. Programmierer lösen dank der Unterstützung mehr Probleme in kürzerer Zeit. Sie verdienen daher auch mehr, selbst wenn der Arbeitgeber ihnen umgelegt nicht mehr pro Stück Problemlösung zahlen würde, die Lohnstückkosten für ihn also gleich geblieben sind.

Das Profitieren von digitalen Tools, eine intellektuell anspruchsvolle und doch vergleichsweise repetitive und Mustern folgende Tätigkeit und dass in beiden Berufsgruppen das Homeoffice so deutlich präferiert wird: sowieso scheinen mir Übersetzer und Programmierer recht viel gemeinsam zu haben.

Geschrieben im November 2022 | Kategorie: Technologie