Die Unmittelbarkeit von ChatGPT

Zwei sensationelle Ereignisse gab es in der jüngeren Geschichte der künstlichen Intelligenz: Das erste war, als Deep Blue Garri Kasparow besiegte. Dass eine KI irgendwann großartig Schach spielen würde, wurde allgemein erwartet – allerdings erst für eine entfernte Zukunft. Und doch war es plötzlich so weit: Der Computer besiegte den womöglich besten Schachspieler aller Zeiten. Es war es ein Schock.

Das zweite Ereignis war, als AlphaGo, wieder in einer Partie gegen einen Weltmeister, diesmal im asiatischen Spiel Go, seinen Stein in der Mitte des Spielbretts platzierte. Eine brüllende Stille brach unter den Kommentatoren aus, so ungewöhnlich war dieser Zug, und seine Genialität wurde erst nach weiteren Zügen für alle offenkundig. Dass KI Schach spielen kann, war da schon verdaut, immerhin waren zwanzig Jahre vergangen. Go aber war aus Sicht seiner Fans so viel komplexer, dass es noch einmal Jahrzehnte dauern müsste, bis Computer auch hier mithalten könnten – wenn dies überhaupt jemals möglich wäre. Und dann war auch das wieder einfach geschehen. Wieder war es ein Schock.

Als ChatGPT anfing Texte zu verfassen, die sich menschlich anfühlten, war das wieder ein Schock für viele. Allerdings einer von einer anderen Art. Dass Computer Texte schreiben würden, war, als ChatGPT veröffentlicht wurde, keine entfernte Vorstellung. Die Rechenkapazität war da, die Theorie wohlbeschrieben, erste unzureichende Versuche hatten bereits viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diesmal war das Ereignis als unmittelbar bevorstehend erwartet worden. Und trotzdem wirkten die Schockwellen verheerender. Denn wo DeepBlue und AlphaGo noch primär Ereignisse innerhalb der Nerdcommunity (und unter den Fans von Schach respektive Go) waren, waren die Zeitungen diesmal voll von Berichten und Kommentaren zu Large Language Models, den in ihnen liegenden Chancen und vor allem ihren Risiken. Denn anders als Deep Blue und AlphaGo, die man nur aus der Berichterstattung darüber als weit entfernte Ereignisse greifen konnte, ohne eigenen Kontakt, war ChatGPT verfügbar. Jeder konnte die Software nutzen. Es war kein Bericht von einem Wunder, das sich weit entfernt in Seoul ereignete. Die Magie entfaltete sich unmittelbar vor den eigenen Augen. Jeder, der wollte, war (und ist) mittendrin, mit Llama mittlerweile sogar lokal auf dem eigenen PC.

Womöglich ist diese schlagartige Verbreitung auch das Gewaltigste an ChatGPT und dessen Rezeption der Auslöser dafür, dass der Bruch zum bisherigen sich so viel schwerwiegender anfühlt als Deep Blue und AlphaGo.

Geschrieben im September 2023 | Kategorie: Technologie

Homeoffice – das Ende der Euphorie

2020 waren wir noch begeistert: Nach Jahren, in denen man jeden Tag im Büro verbracht hat, stellt sich heraus: Arbeiten funktioniert auch aus dem Homeoffice. Ohne tägliches Pendeln, mit flexibleren Arbeitszeiten und durch die erstmals verbreitete Nutzung von Microsoft Teams oder ähnlicher Software gefühlt sogar ohne einen Verlust an Produktivität. Corona hat uns alle dazu gezwungen, aber gut angefühlt hat es sich trotzdem. Der private Vorteil verband sich hervorragend mit dem alles entscheidenden Produktivitätsargument.

Diese Euphorie ist vorbei. Es hat etwas gedauert, aber mittlerweile ist das Bild recht klar: Im Homeoffice steigt die Produktivität nicht, im Gegenteil, sie ist selbst in repetitiven, koordinationsarmen Aufgaben spürbar verringert [1]. Geht es um Aufgaben, die Koordination mit anderen erfordern, steigt der Aufwand für letztere so sehr, dass der Produktivitätsverlust im Homeoffice selbst mit zusätzlichen Überstunden nicht ausgeglichen werden kann [2]. Und dann zieht die Möglichkeit, einen Job aus dem Homeoffice auszuüben, auch noch weniger leistungsstarke Bewerber an als ein klassischer Bürojob [3]. Die aktuellen Studien lassen das Homeoffice nicht mehr in einem guten Licht erscheinen.

Geschrieben im August 2023 | Kategorie: Unternehmenskultur

Sie sind (nicht) wie wir

Die Reichsproklamation in Versailles von Anton von WernerIm deutsch-französischen Krieg von 1870 bis 1871 war die Mobilisierungsgeschwindigkeit von Deutschen und Franzosen zu Kriegsbeginn sehr unterschiedlich. Dem preußischen Generalstab gelang es mit einer ausgefeilten Eisenbahnlogistik und dem gemeinsamen Transfer von Truppen und Material recht zügig schlagkräftige Verbände an die baldige Front zu verlegen. Parallel herrschte auf der französischen Seite noch Chaos. Einheiten konnten wegen mangelhafter Logistik nur langsam von ihren Heimatstandorten verlegt werden und von denen, die die Grenze erreichten, warteten viele noch lange auf Waffen und Munition.

Dieser Unterschied in der Mobilisierungsgeschwindigkeit hätte maßgeblichen Einfluss auf den Ausgang des Krieges haben können. Hatte er aber nicht. Aus einem einfachen Grund: Dafür hätten die Deutschen ihn ahnen müssen. Das haben sie aber nicht. Sie gingen im Gegenteil davon aus, dass die Franzosen genauso schnell wären wie sie selbst und warteten daher ab. Die Franzosen wiederum gingen davon aus, die Deutschen seien genauso langsam wie sie selbst, es gäbe also keinen Grund zur Sorge. Der erste Vorstoß des Krieges – die militärisch unsinnige und für die unterlegene Seite riskante Besetzung von Saarbrücken – ging von den Franzosen aus. Preußen gewann den Krieg schlussendlich deutlich – die Mobilisierung war nicht das einzige, bei dem es den Franzosen überlegen war. Hätten die Deutschen allerdings ihre schnellere Mobilisierung ausspielen können, wäre der Sieg womöglich noch schneller und verlustärmer zu erreichen gewesen.

Dem Fehler dahinter, der 1870 Deutsche und Franzosen gleichermaßen traf, begegnen wir auch heute vielfach: Im Zweifelsfall geht man davon aus, dass die andere Seite, mit der man im Konflikt steht, genauso ist, wie man selbst, mit den gleichen Fähigkeiten und dem gleichen Wissen ausgestattet. So abstrakt aufgeschrieben, ist offensichtlich, dass dies ziemlich unsinnig ist. Dass zwei Menschen oder zwei Unternehmen genau gleiche Fähigkeiten und Wissen haben, das ist unrealistisch. Trotzdem verfällt man leicht dieser Annahme: in eigener Selbstüberschätzung (wie die Franzosen) oder in Überschätzung des anderen (wie die Deutschen).

Deswegen lohnt es sich, sich hin und wieder vor ein weißes Blatt Papier zu setzen und aufzuschreiben, was man wirklich sicher über sein Gegenüber weiß – ohne zuvorderst an sich selbst zu denken.

Geschrieben im April 2023 | Kategorie: Unternehmenskultur

Rudimente des Studiums

Der Mensch ist geworden, was er ist. Das unterscheidet ihn vom Tier. Wir können nichts tun, ohne dass es uns nicht auch verändert. Václav Klaus hatte einmal in einer Rede vor Absolventen herausgestellt, dass das Wesentliche, was von einem Studium hängen bleibe, nicht Fachwissen, sondern bestimmte Formen, bestimmte Prinzipien des Denkens seien. Für die Ökonomen, die vor ihm saßen und derer er selbst einer ist, sei dies besonders das „Denken im Grenzwert“, also die Fähigkeit zu verstehen, dass die gleiche Maßnahme, die unter den einen Bedingungen zu einer Verbesserung der Situation führt – zum Beispiel eine gesteigerte Wohlfahrt –, unter anderen Bedingungen ebendieser zum Schaden gereicht. Wirkrichtung und Effektstärke, der Grenzwert, seien eben von anderen Variablen abhängig. Was gestern noch richtig war, kann heute falsch sein.

Jetzt bin ich ja auch Ökonom und das „Denken im Grenzwert“ ist mir nicht völlig fremd, zurückschauend auf mittlerweile mehr als zehn Jahre seit meinem ersten Universitätsabschluss gibt es aber zwei andere Prinzipien, relativ offensichtlich inspiriert aus der Spieltheorie, die mein Denken vermutlich noch deutlicher geprägt haben: Zum einen das Mitdenken der Reaktionen und zum anderen das Denken vom Ende her.

Mit dem Mitdenken der Reaktionen meine ich folgendes: In der Spieltheorie ist das zentrale Prinzip, nicht nur seine eigenen Aktionen („Strategien“) zu betrachten, sondern auch zu berücksichtigen, welche Aktionen die anderen Akteure wählen, nachdem sie gesehen haben, welche Aktion man selbst auszuführen gedenkt. Überraschend oft begegne ich Plänen, die zwar schöne, konsistente Geschichten des eigenen Vorgehens beschreiben, das Optimieren der Gegenseite in Reaktion auf diesen Plan aber vollständig ignorieren und folglich beim ersten Feindkontakt kollabieren. Dagegen anzuarbeiten ist nicht trivial – niemand mag es, wenn eine schöne Geschichte zerstört wird –, aber recht oft sieht man gerade studierte Ökonomen diesen Kampf fechten.

Das Denken vom Ende her ist ein weiteres Prinzip: Eine der Lösungsstrategien für die Spiele der Spieltheorie ist die Rückwärtsinduktion, bei der man Spiele zu lösen versucht, indem man mit der Analyse des letzten möglichen Spielzugs, der letzten Runde, beginnt und sich dann Runde um Runde nach vorne hangelt, bis der Anfang des Spiels, die erste Runde, erreicht wird. Gerade bei komplexen Interaktionen, meine ich, ist der nächste und übernächste Schritt meist recht kontingent, der letzte Schritt (die Unterschrift der anderen Seite unter einen Vertrag, die Zustimmung eines Gremiums zu einem Vorschlag, die Beförderung auf eine ersehnte Position) oft aber recht einfach zu erkennen. Von dort aus zu aktuellen Entscheidung zurückgehangelt, gibt manchmal klar die Richtung auch für den nächsten und übernächsten Schritt vor. Unter studierten Ökonomen ist ein solches Vorgehen vermutlich recht schnell konsensfähig, in anderen Gruppen dagegen ist die Anschlussfähigkeit meinem Eindruck nach begrenzt.

Methoden- und Faktenwissen mögen mit der Zeit verblassen, aber ein Studium gibt dem Denken eine Richtung, die vielleicht nur in Rudimenten konkret greifbar, die einen aber gleichwohl nie wieder loslässt.

Geschrieben im April 2023 | Kategorie: Allgemeine Betrachtungen

Star Trek und die Welt der Erwachsenen

Das Fernsehen ermöglicht Kindern einen heimlichen Blick in die ihnen ansonsten verschlossene Welt der Erwachsenen, auf die Verhaltensweisen, Probleme und Umgangsformen, die dort gepflegt werden. Insbesondere aber auch in ansonsten ferne soziale Milieus. Das ermöglicht das Lernen, Verstehen und Imitieren. Fernsehen kann einen Beitrag zum sozialen Aufstieg leisten – in einem Ausmaß, wie es Literatur nicht vermag.

Die moderne Serie hat sich auf einen speziellen Zug einer solchen Milieuaufklärung eingeschossen: Der Zerstörung der Mythen von Überlegenheit. Eine typische Serienkonstellation ist die einer Personengruppe, innerhalb derer jeder einzelne durch unverarbeitete Traumata oder schwerwiegende Charaktermängel vermeintlich interessant gemacht wird, deren Konfrontation einen Großteil der Geschichte trägt. Glaubte man naiverweise an die Dominanz edler Gesinnung unter beispielsweise Ärzten, Polizisten oder Anwälten – dieser Glaube wird in diesen Milieus spielenden Serien entschlossen bekämpft. Nicht einmal unter denen mit Superkräfte ist es besser. Die Eliten haben ihren Elitenstatus durch die Bank moralisch nicht verdient.

Eine Serie meiner Jugend war da diametral anders. Bei Star Trek wurde ein anderes Bild gezeichnet, auf durchaus nachvollziehbare Weise: Die Menschheit hat in den 300 Jahren von heute bis zum Serienzeitalter nicht nur materiellen und technologischen, sondern auch sozialen und ethischen Fortschritt erfahren. Auf den seriengegenständlichen Erkundungs- und Forschungsraumschiffen arbeitet zudem die besten dieser bereits insgesamt verbesserten Menschheit. Jeder ist kompetent in der ihm zugeteilten Aufgabe, jeder Sternenflottenoffizier ist im höchsten Maße integer und weder von Charaktermängeln noch von unverarbeiteten Traumata geplagt. Es ist klar zu erkennen, welche Charaktere in ihrer Entwicklung fertig sind, also annähernd vollkommen, und welche sich noch mitten in ihrer Entwicklung befinden, deren Ziel einer Selbstvervollkommnung aber offensichtlich ist und nicht angezweifelt wird. Die Elite hat es verdient Elite zu sein.

Man mag – und das Argument ist nicht von der Hand zu weisen – die Geschichten, die sich daraus ergeben, weniger spannend finden als die, die dunklere Charaktere produzieren. Aber als Blick in die Welt der Erwachsenen bildet es einen Kontrast, der doch einiges an Orientierung gibt.

Geschrieben im März 2023 | Kategorie: Film & Theater