Schillers größter Kritiker war er selbst. Einen solchen Verriss auf »Die Räuber«, sein Erstwerk, wie er ihn eigenhändig verfasst hat (unrealistische Figuren, zu theoretisch, schlecht komponierte Geschichte), hat sonst keiner geschrieben. Natürlich zeigt sich da das Genie, ein solches Stück erst zu verfassen und es dann noch auf solchem Niveau kritisieren zu können. Es zeigt sich darin aber auch noch etwas anderes: Dass Schiller sich die Freiheit gegenüber seiner eigenen Idee bewahrt hat [1].
»Die Räuber« war große Literatur, als es verfasst wurde, war es, als Schiller seine Kritik schrieb, und ist es heute noch. So stabil ist die Welt, in der die meisten sich bewegen, nicht. Oft gilt: Was gestern noch eine gute Idee war, muss es heute nicht mehr sein. Nicht alles, was im Sommer funktioniert, funktioniert auch im Winter. Auch sind unsere Ideen meist kleiner als die Schillers. Manager investieren nur in weniges mehrere Jahre des Schaffens, wie es das Verfassen von Literatur verlangen würde. Man hat gelernt, sich zu diversifizieren – um den Preis mit kleineren Ideen vorliebzunehmen.
Und trotzdem begegnet man ihnen: Denjenigen, die ihre Freiheit gegenüber der eigenen Idee eingebüßt haben, die zu Kritik an ihr nicht mehr fähig sind und nicht mehr erkennen können, ob die Idee falsch war oder falsch geworden ist. Komik tritt hinzu, weil es meist auch noch eine ziemlich kleine – um nicht zu sagen unbedeutende – Idee ist. Zumindest der kleinen, zeitenabhängigen Idee gegenüber sollte man doch seine Freiheit bewahren können.
Dass das eigene Selbstbild von anderen ohne Einschränkung zum Nennwert akzeptiert wird, ist vermutlich jedermanns Wunsch. Nicht ohne Grund ist Luhmanns primäre Empfehlung zum erfolgreichen Umgang mit Vorgesetzten, diesen ihr Selbstbild zu reflektieren. Wenn der Chef sich für besonders eloquent, besonders innovativ oder besonders durchsetzungsstark hält, dann kommuniziert man mit ihm eben, als wäre er es wirklich. Genauso arbeitet auch die Werbung, die keine Sekunde daran zweifelt, dass wer sich für besonders männlich hält, deswegen besonders männliche Produkte kauft, eben auch besonders männlich ist. Eine schöne Welt, in der man nicht nur so akzeptiert wird, wie man ist, sondern sogar – noch viel besser – so, wie man sich selbst am liebsten sieht.
Viele der gegenwärtigen gesellschaftlichen Konflikte haben damit zu tun, dass einzelne oder Gruppen einfordern, dass ihr Selbstbild von allen anderen ohne jede Einschränkung zum Nennwert akzeptiert wird. Da der Mensch der Disposition nach zur spöttischen Kritik neigt – umso mehr, je weiter Selbstbild und Wirklichkeit auseinanderfallen – kann das letztlich nur unter Einschränkung der Meinungsfreiheit funktionieren. Nur die Drohung mit Strafe kann einstweilen verhindern, dass über Absurdes gespottet wird. Aber kann das auf Dauer funktioniert? Ich habe meine Zweifel. Mit jeder Absurdität steigen die Kosten der Unterdrückung – und der Wille, die Wahrheit auszusprechen, wird stärker. Und uns alle – insbesondere die Mächtigen – durch Feedback des Umfelds in der Realität verankert zu haben, erscheint mir jetzt auch nicht gerade als Schreckenswelt.
Es ist nicht so, dass Konzerne ihre Economics nicht kennen. In jedem Unternehmen gibt es Menschen, die eins und eins zusammenzählen können und von vorneherein erkennen, welche Anreize ihrem Arbeitgeber in dem System, in dem er sich bewegt, gesetzt sind. Doch sie sind nicht allein. Und warum sollte man nicht versuchen, der Natur, hier in ihrer sozialen Form des ökonomischen Gesetzes (Böhm-Bawerk), zu trotzen, argumentieren andere, der Konzern sei groß, er sei stark, es werde ihm gelingen. Doch am Ende, nach einigem Hin und Her, strategischen Schwenks und Managementwechseln, siegt immer das ökonomische Gesetz und das Unternehmen folgt seinen Anreizen.
Gesprochen mit Churchill: Man kann sich darauf verlassen, dass Konzerne immer das ökonomisch Richtige tun werden – nachdem sie alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.
Was den Menschen vom Tier unterscheidet, ist, dass wir geworden sind, was wir sind. Wir entstehen erst aus den Erfahrungen, die wir gemacht haben. Hätten wir nicht diese, sondern anderes erlebt, wir wären nicht, wer wir sind. Alles, was wir tun, verändert uns. Deswegen stellt sich auch permanent die Frage, ob das, was man gerade tut, einen näher an das Ideal bringt, das man von sich selbst hat, oder ob es einen weiter davon entfernt und es Zeit wird, innezuhalten. Das gilt vor allem auch für den Beruf. Der gewählte Beruf formt den Menschen. Man kann nicht Jahrzehnte als Buchhalter, Lehrer oder Landwirt arbeiten, ohne Buchhalter, Lehrer oder Landwirt zu werden.
Was kostet einen die Managementkarriere? Vor allem die Phantasie. In einer Welt, in der kurzfristige, greifbare Ergebnisse gefordert sind und Pläne, diese zu erreichen, leidet die Vorstellungskraft. Je länger der Manager Manager ist, desto mehr gleicht selbst das, was als Vision inszeniert wird, dem, was sowieso schon auf der Hand liegt. Für mehr reicht die Phantasie nicht mehr. Sowieso ist Phantasie zu haben gefährlich. In einem Umfeld, in dem alle anderen nach kurzfristigen, greifbaren Ergebnissen suchen, ist der Phantast nicht nur nicht anschlussfähig, er stört den optimierten Ablauf.
Was bleibt? Der tägliche Kampf, sich seine Phantasie zu erhalten. Anders geht es nicht.
Verdächtigungen gegenüber dem, was althergebracht ist, bilden eines der wesentlichen Motive der Gegenwart. Und so trifft es auch die deutsche Sprache, die für Verdächtigungen vermeintlich Anlass bietet, gerade wenn das Verständnis ihrer an Grenzen stößt. Denn sie ist nun einmal asymmetrisch: Es gibt für viele Substantive und die dazugehörigen Pronomen eine generische und eine weibliche Form, aber keine explizit männliche Form. Dass im allgemeinen Sprachgebrauch die generische Form dominiert, ist kein Zufall: Nur in den seltensten Fällen soll doch mit einem Substantiv auch das biologische Geschlecht des Bezeichneten mitgeteilt werden. Man braucht einen Arzt, Handwerker oder Helfer, das biologische Geschlecht ist meist irrelevant. Nur sehr selten ist es überhaupt von Bedeutung (»Olympiasieger der Frauen«, »männlicher Briefmark«). Die deutsche Sprache macht es dann deutlich einfacher das weibliche Geschlecht mitzuteilen (»Ärztin«) als das männliche (»männlicher Arzt«) – eine Asymmetrie, die sich auch deswegen erfolgreich durch die Jahrhunderte getragen hat, weil das Kommunizieren des biologischen Geschlechts eben wirklich nur so selten notwendig ist.
Dass mangelndes Sprachverständnis aus der generischen Form eine männliche machen möchte, also da, wo es »Mitarbeiterinnen« gibt, »Mitarbeiter« nur männlich sein können, nimmt der deutschen Sprache ihre Konsistenz. Denn wird »Mitarbeiter« nun rein männlich, gibt es auf einmal keine generische Form mehr. Kommunikation ohne Mitteilung des Geschlechts wird unmöglich. Dieses Vorgehen macht zusätzlich klassische Literatur unverständlich. Zu Zeiten Goethes war der »Arzt« zwar meistens biologisch männlich, das Wort als solches aber weiterhin indifferent bezüglich des biologischen Geschlechts. Ein anderes Leseverständnis bringt einen um die Freude am Lesen.
Was also tun zur Verteidigung der Sprache? Mehr Deutschunterricht in der Schule ist vermutlich sowieso eine gute Antwort. Es geht aber noch mehr: Denn dann, wenn das biologische Geschlecht der Bezeichneten wirklich egal ist, sollte man – entgegen der bei vielen eingeschliffenen Mode – keine geschlechtsmarkierten Formen verwenden. »Liebe Kolleginnen und Kollegen« verursacht den Zweifel, ob »Kollegen« wirklich generisch gemeint ist. Und ein weiblicher Arzt ist auch eine Ärztin, aber wenn ihr biologisches Geschlecht irrelevant ist, dann ist die Bezeichnung »Arzt« doch genauso informativ.