Der größte Kritiker Friedrich Schillers war er selbst. Einen solchen Verriss auf »Die Räuber«, sein Erstwerk, wie er ihn nach der Veröffentlichung verfasst hat (unrealistische Figuren in einer theoretischen und schwach komponierten Geschichte), hat sonst keiner geschrieben. Natürlich zeigt sich darin das Genie, ein solches Stück erst verfassen und dann auf solchem Niveau kritisieren zu können. Es zeigt sich darin aber auch noch etwas anderes: Schiller hat sich die Freiheit gegenüber der eigenen Idee bewahrt [1].
»Die Räuber« war große Literatur, als es verfasst wurde, war es, als Schiller seine Kritik schrieb, und ist es heute noch. So beständig ist die Welt, in der die meisten von uns sich bewegen, nicht. Was gestern noch eine gute Idee war, muss dies heute nicht mehr sein. Nicht alles, was im Sommer funktioniert, funktioniert auch im Winter. Auch sind unsere Ideen gewöhnlich kleiner als die Schillers. Manager investieren nicht mehrere Jahre in eine einzige Idee, wie es das Verfassen von Literatur verlangt. Man hat gelernt, sich zu diversifizieren – um den Preis, deshalb mit kleineren Ideen vorliebnehmen zu müssen.
Und trotzdem begegnet man ihnen: Denjenigen, die ihre Freiheit gegenüber der eigenen Idee eingebüßt haben, die zu Kritik an ihr nicht mehr fähig sind. Geradezu lächerlich wird es, weil es meist auch noch eine unbedeutend kleine Idee ist. Dabei denkt man doch, zumindest gegenüber der kleinen, zeitenabhängigen Idee sollte man seine Freiheit doch bewahren können.
Geschrieben im September 2025 | Kategorie: Bücher
Marie Vieux’ »Der Tanz auf dem Vulkan« ist in vielerlei Hinsicht ein eindrucksvolles Buch. Literarisch eine Identifikation mit Sklaven und ihrem Leid so zu ermöglichen, eine Identifikation mit ihrer durch und durch beklemmenden Lage – das habe ich in der Form nicht einmal bei Turgenjew gefunden. Auch Wochen, nachdem das Buch zu Ende gelesen ist, verfolgen mich Gedanken. Einen will ich herausgreifen.
Wer Sklaven besitzt, bedarf einer Ideologie, die es ihm ermöglicht, Sklaven als etwas anderes als sich selbst, als etwas minderwertiges zu beschreiben. Sonst lässt es sich nicht aushalten, jeden Tag zu sehen, wie Sklaven in der Straße geprügelt werden. Rassismus mit einer Abgrenzung von überlegender weißer und unterlegener farbiger Rasse oder überlegenen rechtgläubigen Muslimen und unterlegenen Ungläubigen, ist eine schlichte Notwendigkeit, um eine Gesellschaftsordnung, die auf Sklaverei basiert, zu stabilisieren, auch wenn Vieux mit Überzeugungskraft erzählt, wie auch freigelassene Farbige sich in die ökonomische Ordnung als nicht minder grausame Sklavenbesitzer einordnen wollen und einordnen, wenn auch erst kurz vor dem Zusammenbruch dieser Ordnung und womöglich auch als bedeutsamer Schritt in diese Richtung. Doch was alle Sklavenhalter bei Vieux gemeinsam haben: Sie sehen in ihren Sklaven mehr Tier als Mensch. Bis deutlich über die Grenze der Dummheit hinaus sprechen die Sklavenhalter ihren Sklaven die Fähigkeit zum strategischen Denken ab. Einmal nach einem Fluchtversuch ordentlich geprügelt und schon könne man die eigene Tochter gefahrlos mit den Sklaven allein auf Reisen schicken – was natürlich so endet, wie wir es aus einigem Abstand erwarten: Mit erneuter Flucht, aber erst nach Rache an der Tochter.
Ausnahmslos jeder Mensch ist zum strategischen Denken in der Lage. Doch gerade im modernen Opferdiskurs wird das gerne vergessen, der Mensch wird wieder – das Muster hat anscheinend aus schrecklicheren Zeit überlebt – als minderwertiges Geschöpf gesehen, das nur Reaktion-Gegenreaktion kennt, also ohne die Fähigkeit ist, abzuwarten, den Moment zu nutzen, die Dinge miteinander auszuspielen und an einem einmal gefassten Willen auch bei Körperstrafe und Todesdrohung festzuhalten. Auch dem Gegner wird diese Fähigkeit, die einen erst zum gleichwertigen Menschen macht, gerne einmal abgesprochen. Das ist nicht bloß dumm – das ist, wie man bei Vieux lernen kann, auch gefährlich und selbstgefährend dumm.
Geschrieben im Juli 2024 | Kategorie: Bücher